ENGLISH VERSION BELOW!
„Welch zerstörendes, wüstes Leben um mich her! Nichts als Trommeln, Kanonen, Menschenelend in aller Art!“.
So beschrieb der in Bonn geborene Wahl-Österreicher Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) die Zustände in Wien im frühen 19. Jahrhundert. Im Winter 1805/1806 und noch einmal 1809 wurde Wien von französischen Truppen unter Napoleon belagert und besetzt. Zweimal musste Österreich drückende Friedensbedingungen annehmen. Wie wir heute, lebte der Beethoven in unruhigen Zeiten, geprägt von Konflikten und Kriegen.
Mich hat Ludwig van Beethoven von meiner Jugend an in den Bann gezogen. Zuallererst natürlich seine Musik. Aber auch sein Leben. Seine Einstellungen. Sein Charakter. Seine wilden Haare. Sein Gesicht. Die Art und Weise, wie er lebte. Und seine Direktheit:
„Fürst, was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt, was ich bin, bin ich durch mich; Fürsten hat es und wird es noch Tausende geben; Beethoven gibt’s nur einen.“,
schrieb Beethoven an Fürst Karl Lichnowsky im Oktober 1806. (Alle Zitate sind folgender Website entnommen: https://www.beethoven.de/page/Erfahren#lvb_zitate)
Vieles, was ich zu Beethoven bzw. von ihm und über ihn gelesen habe, hat mir imponiert. Er war offensichtlich mutig und selbstbewusst. Zugleich schien er verletzlich zu sein. Hartnäckigkeit und Willensstärke wird ihm zugesprochen. Trotz wirtschaftlicher Abhängigkeiten von seinen Mäzenen war es ihm wichtig, in gewisser Weise unabhängig zu sein. Und er schien unkonventionell gewesen zu sein. „Er machte sein Ding“, würde man heute vielleicht sagen.
An seine eigene Arbeit legte er höchste Qualitätsmaßstäbe an, suchte stets nach Verbesserungen. Ein arbeitender Perfektionist.
„Die Grenzen sind noch nicht gesteckt, die dem Talent und Fleiß entgegenriefen: bis hierher und nicht weiter!“
Wie würde Beethoven heute handeln? Würde er seinen Social Media Account gelb-blau einfärben? Würde er Werke für die Ukraine komponieren und Benefiz-Konzerte geben? Würde er seinen Einfluss geltend machen und bei politisch einflussreichen Personen vorsprechen? Spekulative Fragen. Keiner kann sie beantworten. Ich schon gar nicht. Aber ich glaube, dass viele Persönlichkeits- und Charaktereigenschaften, die ich bei Beethoven zu erkennen glaube, auch in der heutigen Krise gefragt sind.
Ich glaube und erlebe, dass sich Menschen und Organisationen in Krisenzeiten anders verhalten, als in „Nicht-Krisenzeiten“. Es scheinen andere Werte, Normen, Prüfmechanismen und Umgangsformen zu gelten. Diskussionen werden emotionaler, schärfer, trennender. Schnelle Argumente und einfach Lösungen treffen eher auf Gegenliebe. Sachlichkeit und fakten-basierte Argumente scheinen an Bedeutung zu verlieren. Vielleicht ist es leichter, einfach nach Gut und Böse zu unterteilen. Das ist klar. Differenzierte Positionen lassen sich nicht so leicht vertreten. Oder es fehlt der Mut dazu.
„Wohltuen, wo man kann – Freiheit über alles lieben – Wahrheit nie auch sogar am Throne nicht, verleugnen!“,
hätte Beethoven in dieser Situation vielleicht geraten. Tatsächlich schrieb er dieses Zitat aus Schillers „Don Carlos“ im Mai 1793 auf die Seite 304 in das Stammbuch von Theodora Johanna Vocke aus Nürnberg.
In Europa erleben wir derzeit mit dem brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine Zeitenwende. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes war ein konventioneller Krieg in Europa unvorstellbar geworden. Trotz weltweit hoher Rüstungsausgaben. Trotz modernster Waffentechnologie. Trotz der Annexion der Halbinsel Krim durch Putins Russland im Jahr 2014.
Der brutale Krieg Russlands gegen und in der Ukraine ist für alle Menschen, die derzeit in Europa im Berufsleben stehen, eine gänzlich neue Erfahrung, eine Situation, die es bislang nicht gab. Den zweiten Weltkrieg und die Nachkriegsjahre kennt nur die Generation der über 80-Jährigen aus eigenem Erleben. Vielleicht haben wir den Instinkt und die Erfahrung verloren, mit solchen Situationen umgehen zu können.
Krisen und Katastrophen kannte Beethovens zu Hauf. Sein Vater war Alkoholiker, seine Mutter starb früh. Schon als Jugendlicher musste er für seine Geschwister deswegen Verantwortung übernehmen. Bereits mit Mitte 20 machte sich seine Hörschädigung bemerkbar. Mit 38 war er stark schwerhörig, mit 49 taub. Aber er gab nicht auf. Er komponiert weiterhin, erschuf musikalische Kunstwerke, die er nicht hören konnte.
„Die Hoffnung nährt mich, sie nährt ja die halbe Welt, und ich hab‘ sie mein Lebtag zur Nachbarin gehabt, was wäre sonst aus mir geworden?“
Auch wenn diese Aussage Beethoven nur zugeschrieben wird, zitiere ich es hier, denn es zeugt es von einem großen Optimismus. Es soll einem Brief Beethovens an Bettina Brentano vom 11. August 1810 entstammen. Allerdings ist die Authentizität dieses Briefes nicht nachgewiesen.
„Wahre Kunst bleibt unvergänglich“, schrieb Beethoven an Luigi Cherubini in Paris im März 1823 und beschrieb damit sehr treffend die tatsächliche Wirkung und Bedeutung vieler seiner Werke bis heute. Als Mensch bleibt Beethoven widersprüchlich und rätselhaft. Gerade deswegen finde ich ihn beeindruckend.
Ich glaube, dass in einer Krise wie der derzeitigen Charakter mehr denn je gefragt ist. Mutig zu sein, ist gefragt. Die Bereitschaft, seine Meinung trotzt möglicher Nachteile offen anzusprechen. Der Kariere ist das oft hinderlich.
Vielleicht können wir von Beethoven lernen.
„Verloren ist jeder [Tag], an dem wir nicht etwas Nützliches erlernt haben. Der Mensch besitzt nichts edleres und kostbareres, als die Zeit; darum verschiebe nie auf morgen, was du heute zu thun vermagst.“,
ist seinem handschriftlichen Nachlass zu entnehmen.
ENGLISH VERSION:
Character in troubled times
„What destructive, desolate life around me! Nothing but drums, cannons, misery of all kinds!“.
This is how Ludwig van Beethoven (1770 – 1828), an Austrian by choice born in Bonn, described the conditions in Vienna in the early 19th century. In the winter of 1805/1806 and again in 1809, Vienna was besieged and occupied by French troops under Napoleon. Twice Austria had to accept oppressive peace terms. Like us today, Beethoven lived in troubled times, characterized by conflicts and wars.
Ludwig van Beethoven fascinated me from my youth. First and foremost, of course, his music. But also his life. His attitudes. His character. His wild hair. His face. The way he lived. And his directness:
„Prince, what you are, you are by chance and birth, what I am, I am by myself; princes there have been and there will be thousands more; Beethoven there’s only one.“
wrote Beethoven to Prince Karl Lichnowsky in October 1806. (All quotes are taken from the following website. https://www.beethoven.de/page/Erfahren#lvb_zitate)
I was impressed by much of what I read about Beethoven and by him. He was obviously courageous and self-confident. At the same time, he seemed vulnerable too. He was said to be tenacious and strong-willed. Despite economic dependencies on his patrons, it was important for him to be independent in some way. And he seemed to have been unconventional. „He did his thing,“ one might say today.
He applied the highest quality standards to his own work, always looking for improvements. A working perfectionist.
„The limits have not yet been set to talent and diligence: up to here and no further!„
How would Beethoven act today? Would he color his social media account yellow and blue? Would he compose works for Ukraine and give benefit concerts? Would he use his influence and make appearances before politically influential people? Speculative questions. No one can answer them. I certainly cannot. But, I believe that many personality and character traits that I think I recognize in Beethoven are also in demand in today’s crisis.
I believe and experience that people and organizations behave differently in times of crisis than in „non-crisis“ times. Different values, norms, testing mechanisms and manners seem to apply. Discussions become more emotional, sharper, more divisive. Quick arguments and easy solutions are more likely to meet with approval. Objectivity and fact-based arguments seem to be losing importance. Perhaps it is easier to simply divide into good and bad. That is clear: Differentiated positions are not so easy to defend. Or the courage to do so is lacking.
„Do good where you can – love freedom above all else – never deny truth even at the throne!“,
Beethoven might have advised in this situation. In fact, he wrote this quote from Schiller’s „Don Carlos“ in May 1793 on page 304 in the family album of Theodora Johanna Vocke from Nuremberg.
In Europe, we are currently experiencing a turning point with Russia’s brutal war of aggression on Ukraine, which violates international law. After the end of the East-West conflict, a conventional war in Europe had become unimaginable. Despite high arms spending worldwide. Despite state-of-the-art weapons technology. Despite Putin’s Russia’s annexation of the Crimean peninsula in 2014.
Russia’s brutal war against and in Ukraine is an entirely new experience for all people currently at work in Europe, a situation that has never existed before. The Second World War and the post-war years are known only to the generation of those over 80 years of age from their own experience. Perhaps we have lost the instinct and experience to deal with such situations.
Beethoven knew plenty of crises and catastrophes. His father was an alcoholic, his mother died early. Already in his mid-20s, his hearing impairment became noticeable. At 38, he was severely hearing impaired, and at 49, he was deaf. But he did not give up. He continued to compose, creating musical works of art that he could not hear.
„Hope feeds me, it feeds half the world, and I have had it as a neighbor all my life, what would have become of me otherwise?“
Even though this statement is only attributed to Beethoven, I quote it here because it testifies to a great optimism. It is said to be taken from a letter written by Beethoven to Bettina Brentano on August 11, 1810. However, the authenticity of this letter has not been proven.
„True art remains imperishable,“
Beethoven wrote to Luigi Cherubini in Paris in March 1823, very aptly describing the actual impact and significance of many of his works to this day. As a person, Beethoven remains contradictory and enigmatic. For this very reason, I find him impressive.
I believe that in a crisis like the current one, character is needed more than ever. Being courageous is what is needed. The willingness to speak one’s mind openly despite possible disadvantages. It often gets in the way of one’s career.
Perhaps we can learn from Beethoven.
„Lost is every [day] in which we have not learned something useful. Man possesses nothing more noble and precious than time; therefore never put off until tomorrow what you are able to do today.“
can be taken from his handwritten legacy.