Eine schwierige Debatte um einen Begriff, der sich kaum fassen lässt.
Es ist keine leichte Diskussion. Oft führt sie zu Missverständnissen. Nicht selten wird sie bewusst missinterpretiert. Und instrumentalisiert.
Ich habe lange überlegt, ob es sinnvoll ist, zu diesem Thema einen Blogbeitrag zu schreiben und zu veröffentlichen. Wie drücke ich mich richtig aus? Wie schaffe ich es, klar genug zu sein, um Klischees zu vermeiden und um Missverständnissen keinen Raum zu geben. Schließlich entzünden sich an dem Begriff und der gesellschaftspolitischen Diskussion allzu leicht Emotionen. Und es ist nicht einfach, so präzise zu argumentieren, dass die eigene Position hinreichend deutlich wird.
Ach ja, ich spreche vom Begriff „Heimat“.
Lange habe ich mich mit dem Begriff schwer getan. Er erschien mir wie aus einer vergangenen Zeit. Altmodisch. Nicht mehr zeitgemäß. Irgendwie komisch.
Ungewohnt klang es für mich, als Herbert Zimmermann in seiner legendären Radioreportage des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft 1954 in Bern von Schlachtenbummlern und Zuhörern aus der „Heimat“ sprach. Zur Siegerehrung sagt ein hörbar ergriffener Reporter: „Und ich kann mir vorstellen wie Sie in der Heimat, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Anteil nehmen werden.“
Ist „Heimat“ wirklich eine Vokabel aus vergangener Zeit? Als ich mich näher mit den Umständen der 54er Fußballweltmeisterschaft und den Lebensläufen der Mannschaft und des Sportreporters beschäftigte, führte ich die Worte Zimmermanns und seinen besonderen Sprachstil auf seine Erlebnisse und Erfahrungen als Soldat im zweiten Weltkrieg zurück. Mit seiner emotionalen und wortgewaltigen Reportage hat der Journalist dem nach dem verlorenen Krieg und den Verbrechen des Nationalsozialismus wieder zu Selbstvertrauen findenden Deutschland eine sportliche „Stimme“ verliehen.
Teile der Endspiel-Reportage von der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 im Berner Wankdorf-Stadion kennen auch heute noch viele Menschen nahezu aller Altersstufen. Wenn über den ersten deutschen Weltmeistertitel gesprochen wird, sind Stimme, Sprache und die Emotionen des NDR-Mannes aus dem Westen präsent: „Halten sie mich für verrückt, halten sie mich für übergeschnappt. Ich glaube, auch Fußball-Laien sollten ein Herz haben, sollten sich an der Begeisterung unserer Mannschaft und an unserer eigenen Begeisterung mitfreuen …“
Jüngst erlebt der Begriff „Heimat“ in Deutschland eine Renaissance. Die gesellschaftspolitische Diskussion wurde spätestens im März dieses Jahres mit neuem Elan entfacht. Zum ersten Mal haben wir in Deutschland auf Bundesebene einen Heimatminister. Vorreiter hierfür war 2014 der Freistaat Bayern: Dort ist der Finanzminister auch für Heimat und Landesentwicklung zuständig. In der Bundesregierung ist es im vierten Kabinett Merkel der Bundesinnenminister, Horst Seehofer von der CSU. In Nordrhein-Westfalen gibt es seit 2017 ein Heimatministerium und eine Heimatministerin, Ina Scharrebach. „Nordrhein-Westfalen bietet uns allen eine lebenswerte Heimat im Herzen Europas. Weltoffenheit und Toleranz, Verantwortungsgefühl und Gemeinsinn schaffen einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt – ob in den großen Städten oder in den ländlichen Regionen“ – heißt es auf der Website des Ministeriums. Ziel der neuen Landesregierung sei es, Heimat zu stärken. Denn wo das Heimatgefühl stark sei, würden sich Menschen wohl und sicher fühlen.
Aber wofür steht der Begriff Heimat eigentlich? Und was bedeutet Heimatverbundenheit? Oder gar Heimatliebe? Die Schriftstellerin Nora Bossong und der Pianist Igor Levit führen in der Rubrik „Portofrei“ des Online-Angebotes des Goethe-Institut einen bemerkenswerten digitalen Briefwechsel und debattieren zu den Fragen „Herkunft gleich Heimat gleich Identität?“ und die Auswirkungen der Globalisierung und Digitalisierung auf die Bedeutung von Heimat.
Woran denke ich, wenn ich den Begriff „Heimat“ höre? Ist es mein Geburtsort Koblenz? Oder Lahnstein, wo ich aufgewachsen bin? Ist der Ort, wo ich derzeit lebe, Hannover? Sind es die Menschen, die ich schätze und denen ich vertraue, meine Frau, meine Kinder, meine Familie, meine Freunde? Oder ist es eher ein Gefühl von Geborgenheit, von Zugehörigkeit, des sich Wohlfühlens? Ist Heimat Tradition, Erinnerungen, gemeinsame Werte und Solidarität? Was bedeuten mir äußere Merkmale, die Landschaft, die Sprache, der Dialekt, eine spezielle Kleidung oder Tracht?
Viele haben sich über die Etablierung des Heimatministeriums lustig gemacht, insbesondere als Horst Seehofer mit seinem Versprecher vom „Heimatmuseum“ für Erheiterung bei den einen, für Spott bei den anderen sorgte. Mich haben die Diskussion und die Berichterstattung nachdenklich gemacht. Warum haben wir, warum habe ich ein Problem mit dem Begriff Heimat? Warum kommen mir und anderen so schnell Klischees von Lederhosen, Sauerkraut und Vereinsmeierei in den Kopf? Und warum wird der Begriff Heimat so oft gebraucht, um damit ab – und auszugrenzen?
Als Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt starb, sagte der damalige SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel: „Ein wirklich großer Patriot, ein großer Europäer und ein großer Sozialdemokrat ist gestorben.“ „Immer Patriot, nie Nationalist“ – das war das Motto, unter dem Johannes Rau Bundespräsident wurde. Und der ebenfalls verstorbene Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl machte immer deutlich, dass er Pfälzer, Deutscher und Europäer sei. Stolz zu sein auf die Heimat bedeutete für Helmut Kohl nie, sich gegen andere abzugrenzen. Kohl war wie Helmut Schmidt ein moderner Patriot. Er hat die nationale Sicht der Dinge selbstbewusst vertreten, ohne den Blick auf die europäische Perspektive zu verlieren. Dass er europäisch dachte, hat ihn die deutschen Interessen nie vernachlässigen lassen. Deutschland und Europa waren für ihn kein Widerspruch. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker formulierte beim Europäischen Trauerakt zu Ehren von Dr. Helmut Kohl deswegen: „Rheinland-Pfalz, Deutschland und Europa verneigen sich vor dem imposanten Lebenswerk von Helmut Kohl.“
Die aktuelle gesellschaftspolitische Diskussion zeigt, dass sich viele Politiker und Parteien mit dem Begriff Heimat und seiner politischen Dimension schwer tun. Die Grünen etwa sind gespalten. Einige meinen, der Begriff Heimat sei ausgrenzend. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz ist offener, sagt: „Lasst uns darüber diskutieren“. Erklärend fügt er hinzu: „Die Frage ist eben: Welche Voraussetzungen muss der Staat schaffen, damit Menschen Heimat finden, Heimat empfinden können?“ SPD und Linke fremdeln mit dem Heimatbegriff. Für viele Sozialdemokraten ist es ein Gefühl, ein Wir-Gefühl. Einige leiten daraus Solidarität und Verantwortung füreinander ab. Richtig ist aber auch, dass der Heimatbegriff in der SPD nicht sehr häufig bemüht wird.
„Dein Land. Deine Heimat. Hol sie Dir zurück“ – lautete ein Wahlkampfslogan der rechtsextremen Partei zur Bundestagswahl 2017. Die CSU will die Diskussion um den Heimatbegriff und die Deutungshoheit hierüber nicht der AfD überlassen. Horst Seehofer muss sich um einiges kümmern: den Breitbandausbau, die Landesentwicklung, um gleichwertige Lebensverhältnisse. Seine Verständnis ist umfassend: „Das sind die Bräuche, das ist die Kultur, die religiöse Einstellung, das Ehrenamt, das die Menschen ausüben. Wo der Zusammenhalt stattfindet der Bevölkerung. Das ist Heimat.“
Die FDP sieht andere politische Schwerpunkte. FDP-Chef Christian Lindner hätte ein Digitalministerium als zukunftsweisender als ein Heimatministerium empfunden. Er gönne das zwar der CSU, es wäre aber gut gewesen, wenn es ein Digitalisierungsministerium gegeben hätte.
Und die CDU? Deren Bundesvorsitzende und Kanzlerin Angela Merkel betont, dass Heimat ein guter Ort für die Menschen sein soll, die in Deutschland wohnen, damit sie ihr Leben gut führen können. Dazu würden auch Arbeit und ein Auskommen gehören.
Welche Rolle spielt Heimat in einer zunehmend digitalisierten Welt, in Zeiten der Digitalen Transformation und der Globalisierung? Auf den ersten Blick erscheint es paradox: Der Begriff ist heute für viele Menschen wichtiger als jemals zuvor. Die rasanten technischen Veränderungen und digitalen Innovationen führen auch zu Verunsicherung. Gleichzeitig können viele Menschen, die vom Krieg aus ihrem eigenen Land, ihrer Heimat vertrieben werden, in anderen Regionen der Welt eine neue Heimat finden. Das wiederum kann bei anderen Ängste erzeugen. Und zu einer Rückbesinnung auf einen Heimatbegriff führen, der eher ab- und ausgrenzt.
Egal ob digitale und analoge Welt: Wir können uns heute freier bewegen als je zuvor. Wir können uns umfassender informieren als je zuvor. Es war nie so leicht, seine eigene Meinung zu publizieren, sich selbst öffentlich zu äußern. Über soziale Medien und Video-Chat-Fenster können wir uns weltweit mit Personen verbinden, die uns am Herzen liegen. Erinnerungen, Fotos, Videos, Dokumente, Tagebücher – heute können wir auf all das digital immer und überall zugreifen. Vor diesem Hintergrund ist für viele Menschen der Spruch „Home is where the WIFI connects“ Realität.
Mir scheint die Diskussion um den Begriff Heimat wichtig. Konstantin von Notz hat recht: „Lasst uns darüber diskutieren“. Ich plädiere dafür, den Begriff weit zu fassen, mehrdimensional, freiheitlich. Für mich gehören dazu gemeinschaftliche Werte und Respekt, Vertrautheit, Geborgenheit, Menschen, Sprache, Musik, Kultur, Tradition. Bei der Gelegenheit komme ich auf Herbert Zimmermann und seine Reportage von 1954 zurück. Wie geht er mit dem sportlichen Gegner um, den Ungarn? Er spricht von der „großartigsten Techniker-Elf“, von „herrlichen Kombinationen der Ungarn“, von einem Torsteher, der „wundervoll“ hält. Er ist wertschätzend, anerkennend und stellt Gemeinsamkeiten heraus, etwa die sportliche Fairness.
Heimat, das ist meine Überzeugung, gehört niemandem. Sie wird gestaltet, erlebbar gemacht. Von Menschen, die miteinander sprechen, sich austauschen. Die gemeinsam Dinge erleben, sich an denselben Dingen erfreuen, zugleich aber auch zu vielen Fragen ganz unterschiedlicher Auffassung sein können. Heimat kann schön sein, sich gut anfühlen. Es lohnt sich, daran zu arbeiten, im privaten, beruflichen, im Verein, im Ehrenamt oder in der Politik. Heimat ist Gemeinschaftsaufgabe!
Ein Kommentar zu „Alt, überholt, wieder aktuell oder immer wichtig?“