Karneval: Verbindendes Element für einen besseren gesellschaftlichen Zusammenhalt – kein Sprengstoff!

529 Platzverweise, 202 in Gewahrsam genommene Personen und 437 Anzeigen wegen Körperverletzung. Auf der anderen Seite: 590 Mitglieder, rund 180 Aktive auf der Bühne und eine mehr als 100-jährige Tradition.

579-581: Das sind die Zeilen im Koalitionsvertrag, auf den sich CDU, CSU und SPD im Bund geeinigt haben. Das bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt soll gestärkt sowie entbürokratisiert und eine Ehrenamtsstiftung gegründet werden.

In der zurückliegenden Karnevalszeit bin ich nachdenklich geworden. Warum? Seit mehr als 20 Jahren habe ich erstmals wieder an einer Karnevalssitzung teilgenommen. In meiner Heimatstadt Lahnstein. Gelegen am weltweit einmaligen Zusammenfluss von Lahn und Rhein. Eine sympathischen Kleinstadt mit rund 19.000 Einwohnern, wie es auf der Homepage der in Rheinland-Pfalz gelegenen kreisangehörigen Stadt heißt.

Aber nochmal: Warum nachdenklich? Nachdenklich, weil mir bei der zweiten Sitzung des Niederlahnsteiner Karnevalverein (NCV) eines klar wurde: Karneval verbindet. Er hat eine besondere gesellschaftspolitische Funktion. Karneval führt unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Generationen zusammen. Und Karneval sorgt für Zusammenhalt.

Auf der anderen Seite füllen viele Negativberichte die Medien. Beim Kölner Karneval bleibt zur Sessioneröffnung oft nur das Bild von „Wildpinklern“, Betrunkenen und Müll in der Altstadt im Gedächtnis haften. Und am Aschermittwoch zieht die Kölner Polizei Bilanz und der Kölner Stadtanzeiger berichtet über 529 Platzverweise, 202 in Gewahrsam genommene Personen und 437 Anzeigen wegen Körperverletzung. Das ist die andere Seite der Medaille. Dass das Fazit des Kölner Polizeipräsidenten Uwe Jacob dabei noch recht positiv ausfällt, weil es einen erkennbaren Trend zu sinkenden Kriminalitätszahlen gibt, macht die Situation nicht besser. Schade!

Mein (Fremd-)bild vom Karneval – ich lebe seit vielen Jahren in Norddeutschland – hat sich durch meine Erlebnisse vor Ort völlig geändert. Und zwar ins Positive. Zwar ist NCVSSFSD bundesweit nicht so bekannt, dafür aber wirklich grandios. NCVSSFSD steht für das „NCV-Synchronschwenkfähnchenschwenkerduo“, für einen Vortrag der besonderen Art. Die beiden Karnevalisten berichten über die zurückliegenden Ereignisse in ihrer Stadt mit einer Ruhe und mit einem Witz , den man wohl nur beim parallelen, langsamen Fähnchenschwenken quasi in einer Zeitlupen-Ekstase erreichen kann. Oder die zwei Chaoten, die eine Rede ohne Worte abliefern.

Aber was viel wichtiger ist: die Akteure auf der Bühne sind alle ehrenamtlich aktiv. Und in der Gemeinschaft schaffen sie es, ein fünfstündiges Programm auf die Bühne zu bringen, das es in sich hat. Sie schaffen es, Alt und Jung zu verbinden. Die jüngste Büttenrednerin war keine 18 Jahre alt, der Älteste hatte die 70 überschritten. Die jüngste Tänzerin muss etwa 5 Jahre alt gewesen sein, der Älteste im Männerballett schien auf das Rentenalter zuzugehen.

Und der rund 700 Besucher fassende große Festsaal in der Lahnsteiner Stadthalle? Er war ausverkauft. Und auch hier hat sich alles getroffen, und gemeinsam miteinander gefeiert: ob Teen Ager, Best Ager oder „Silver Society“. Fast scheint es mir, als hätten die Mitglieder der Koalitionsverhandlungen beim NCV heimlich „gelunzt“. Anders kann ich mir den in Zeile 4801 ausgedrückten Stolz auf die Integrationsleistung unseres Landes nicht erklären, “insbesondere auf das vielfältige ehrenamtliche Engagement in den Städten und Gemeinden“.

Und sehr zutreffend heißt es später in den Zeilen 5546 -5553: „Ein starkes Ehrenamt und ausgeprägtes bürgerschaftliches Engagement sind Markenzeichen unseres Landes. Millionen von Menschen sind freiwillig für das Gemeinwohl aktiv – vom individuellen Engagement bis zum Ehrenamt, z. B. in Sportvereinen, Kirchen, Stiftungen, Vereinen, Migrantenorganisationen und der Wohlfahrtspflege. In ländlichen Regionen ist das Ehrenamt eine tragende Säule eines lebendigen und funktionierenden Gemeinwesens. Dieses ehrenamtliche und bürgerschaftliche Engagement für alle Generationen verdient Anerkennung und Wertschätzung. Wir werden es herausgehoben in der Bundesregierung verankern und durch konkrete Maßnahmen unterstützen und stärken.“

Zurück von der großen Bundespolitik in die Provinz, meine Heimatstadt Lahnstein. Während der zweiten Sitzung des NCV ist es Tradition, ein aktives Vereinsmitglied mit der höchsten karnevalistischen Würdigung des Vereins – dem so genannten Baareschesser – auszuzeichnen. Dem Begriff „Baareschesser“ widmet Wikipedia sogar einen eigenen Artikel. „Baare“ steht im Altdeutschen für Toilette. Der Begriff geht auf eine Überlieferung aus dem Mittelalter zurück. In Niederlahnstein wird „Baareschesser“ als Bezeichnung der Einwohner verwendet und mit einem Denkmal an der Lahn gewürdigt.

In diesem Jahr hat der Vorsitzende Uwe Unkelbach dem langjährigen Mitglied Peter Sturmes die begehrte Bronzefigur unter tosendem und rührendem Beifall der Gäste überreicht. Was mir besonders imponiert hat: Mit dem 52-jährigen Peter Sturmes wurde ein Mann gewürdigt, der seit mehr als 30 Jahren Mitglied im Niederlahnsteiner Carneval Verein und der der „Schaffer“ hinter den Kulissen ist. Er ist die gute Seele des Bühnen- und Veranstaltungsteams des NCV. Rund um das Jahr immer zur Stelle, wenn Hilfe benötigt wird, wie es auf der NCV-Website heißt. Genau das ist das im Koalitionsvertrag erwähnte ehrenamtliche und bürgerschaftliche Engagement für alle Generationen, das Anerkennung und Wertschätzung verdient.

Es gäbe noch viel mehr zu erzählen, etwa vom Wagenbau-Team, das in der Sessionsvorbereitungszeit montags von 17:00-20:00 in der vereinseigenen Wagenbauhalle dafür sorgt, dass der NVC bei der eigenen Kappenfahrt am Karnevalsdienstag ein glänzendes Bild abgibt.

Apropos Kappenfahrt: In heutiger Zeit fallen für einen Umzug dieser Größenordnung Kosten im fünfstelligen Euro-Bereich an. Blicken wir rund 80 Jahre zurück: 1937 war die Durchführung der Kappenfahrt wegen des finanziellen Risikos ungewiss. Erst nachdem feststand, dass ein Finanzüberschuss von 19,26 Reichsmark aus den Saalveranstaltungen erwirtschaftet wurde, entschied der Vorstand der damaligen Großen Niederlahnsteiner Karnevalsgesellschaft, die Kappenfahrt durchzuführen. Heute ist dieses nur durch die Unterstützung der Bevölkerung, etwa bei Haus- und Tellersammlungen sowie die Unterstützung durch den in Lahnstein ansässigen Handel und Gewerbe möglich.

Es ist gut, dass die neue Bundesregierung das Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement stärken und fördern will. Denn es zahlt sich mehrfach aus, sorgt für Zusammenhalt, stärkt die Solidarität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Viele unterschiedliche Menschen können hier ein Zuhause finden. Viele ältere Menschen behalten Anschluss und nehmen am gesellschaftlichen Leben teil. Dabei ist Karneval nicht nur vom 11. November bis zum Aschermittwoch: Ein Karnevalsverein ist eine „Ganzjahresveranstaltung“.

Karneval ist weit mehr als ein altes rheinisches Brauchtum. Es ist ein Stück Heimat, ein Stück Gesellschaft, ein Stück Politik. Ob Sommerfest, Jahreshauptversammlung, Gesamtaktivenbesprechung, Kuchenstand bei der Lehner Kirmes, die Beteiligung der „Tanzmädels“ am ADAC-Start-up-day oder der Einsatz des Showballetts bei gut 30 Grad beim Fest im Nachbarort: Vereinsleben im Karneval hat nichts mit konsumorientierten Massenveranstaltungen zu tun. Hier treffen sich Menschen, die während der Session gemeinsam feiern und gestalten. Und die dabei Freunde finden, mit denen sie sich auch außerhalb der Session treffen. Das ist gut so und verdient Respekt!

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