Vierte Stufe im bundesdeutschen Parlamentarismus?

Warum eine „Kenia“-Koalition unwahrscheinlich – in der aktuellen Situation aber nicht undenkbar sein sollte

 

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Lange Zeit gab es im Bundestag klare Verhältnisse. Und eine recht einfache Mechanik der Regierungsbildung: Die Konstellation, die rechnerisch möglich und nötig, inhaltlich sinnvoll sowie parteipolitisch ratsam erschien, bildete die Bundesregierung. Den Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin stellte in dieser Konstellation die größten Partei.

Das Aufkommen der Grünen in der 80er-Jahren eröffnete erstmals neue Optionen. Und nach der Deutschen Wiedervereinigung hat sich mit der Etablierung der Linken die Vielfalt in der Parteienlandschaft weiter erhöht. Jetzt ist mit der AfD eine Partei rechts der Union in den Bundestag eingezogen. Sie könnte sich dauerhaft als politische Kraft etablieren, auch wenn ihre Haltung zur parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes zweifelhaft erscheint.

Die Wähler haben sieben Parteien bzw. sechs Fraktionen in den 19. Deutschen Bundestag gewählt. Und für ein Wahlergebnis gesorgt, dass die Regierungsbildung erschwert und die im Parlament vertretenen  Parteien vor neue Herausforderungen stellt. Bisher gültige Denkmuster scheinen ihre Gültigkeit zu verlieren. Verunsicherung wächst. Wem sind die Parteien verpflichtet? Welche Verantwortung tragen Sie?

Verpflichtet sind die gewählten Parteien ihren Wählern und ihren Mitgliedern. Letztendlich aber dem Volk, an dessen politischer Willensbildung sie mitwirken. Sie bündeln und artikulieren Interessen und Meinungen. Sie beteiligen sich an Wahlen. Und sie haben die Verantwortung, eine handlungsfähige Regierung und eine Opposition zu bilden, um Alternativen und unterschiedliche Auffassungen in den politischen Wettbewerb einzubringen.

Aber wer sagt, dass eine Koalitionsregierung zwar rechnerisch möglich sein muss, aber immer nur so groß sein darf, wie es zur Mehrheitsbildung notwendig ist? Ist eine Regierung aus vier Partnern wirklich undenkbar, wenn für die Mehrheit drei Partner ausreichen? Nach dem Scheitern einer möglichen Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen denken die verantwortlichen Akteure offensichtlich nicht ernsthaft darüber nach, eine Koalition aus CDU/CSU, SPD und Grünen zu bilden. Die Grünen seien in dieser Konstellation für eine stabile Mehrheit ja nicht erforderlich. Aber gibt es wirklich gravierende Gründe, die das ausschließen?

Natürlich müsste ein solches Bündnis eine solide inhaltliche Basis finden. Analysiert man die Wahlprogramme der Parteien und die unterschiedlichen Konstellationen in den Bundesländern, scheint das aber nicht unmöglich zu sein. Es müsste aber auch parteipolitisch vertretbar sein. Schließlich will kein Partner bei der kommenden Wahl von den Wählern abgestraft werden oder die eigene Partei in einer unlösbaren inneren Krise stürzen.

Wenn man darüber einmal genauer und ohne persönliche Eitelkeiten nachdenkt, liegen in einer solchen Regierungskonstellation für alle Beteiligten mehr Chancen als Risiken. Für alle Partner wäre es kein „weiter so“. Alle Partner würden ihren Verpflichtungen gegenüber Wählern, Mitgliedern und dem Volk gerecht werden. Und alle Partner würden sich ihrer Verantwortung stellen, für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie einzustehen.

Unsere Demokratie ist ein hohes Gut, ein unschätzbares Gut. Aber sie ist nicht auf Effizienz ausgerichtet. Die freiheitlich demokratische Grundordnung beruht auf gemeinsamen Werten und einer festen Basis.

Viele fürchten von einer Großen Koalition und vielleicht auch von einer Kenia-Koalition ein Erstarken der politischen Ränder. Aber ist das wirklich ein Naturgesetz? Linke, liberale und rechte Parteien werden eine kraftvoll Oppositionspolitik machen. Und auch eine Regierungsmehrheit wäre in einer solchen Konstellation kein monolitischer Block, in dem Diskussion und unterschiedliche politische Schwerpunktsetzungen unmöglich wären.

Politik wird von Menschen gemacht. Die gewählten Politiker, die Spitzenvertreter der Parteien müssen in der Demokratie Verantwortung übernehmen. Ihre Aufgabe ist es, brauchbare Kompromisse zu finden, der Bundesrepublik Deutschland gute Dienste zu leisten und Interessen zu bündeln und zu artikulieren.

Das hat in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gut funktioniert. Für neue Situationen wurden neue Lösungsmöglichkeiten gefunden, Denkansätze haben sich verändert. Feste Kategorien und Konstellationen scheinen heute mehr denn je überholt zu sein. Agilität, Flexibilität, Kompromissfähigkeit, Zielstrebigkeit und Klarheit sind gleichermaßen gefragt. Ist eine Koalition mit mehr Partnern als rechnerisch erforderlich wirklich undenkbar?

3 Kommentare zu „Vierte Stufe im bundesdeutschen Parlamentarismus?

  1. Aus meiner Sicht wäre auch eine Kenia-Koalition ohne Beteiligung der CSU vorstellbar. Dann wäre keine der drei beteiligten Parteien, CDU, SPD und Grüne, überflüssig. Neben der Mehrheit im Bundestag hätte ein solches Bündnis auch eine Mehrheit im Bundesrat, sodass auch größerer Reformprojekte angestoßen werden können.

    Und ohne die CSU bzw. ohne Obergrenzen-Horst, Maut-Alex und Glyphosat-Christian erscheinen mir auch die inhaltlichen Schnittmengen ein gutes Stück größer. Welche Vorteile eine solche Kenia-Koalition ohne die CSU aus meiner Sicht sonst noch hätte, habe ich hier aufgelistet: http://www.mister-ede.de/politik/vorteile-einer-kenia-koalition/8596

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    1. Danke für den Kommentar. Mir geht es in dem Blogpost darum, aufgeund der aktuellen Situation neue Handlungsoptionen auszuloten und kreative Denkansätze zu reflektieren – ganz unabhängig von parteipolitischen Überlegungen.

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